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Heimaträtsel: Tante Inge und die Fischbrötchen

17.08.2018

Historisches Foto zeigt die Schönebecker Nicolaistraße mit der Straßenbahn Nummer 14 nach Magdeburg

Mehr als 50 Zuschriften und Anrufe kamen in dieser Woche zu der Volksstimme-Aktion „Kennen Sie Ihre Heimat?“ in der Redaktion an. Alle Leser haben etwas gemeinsam: Sie wussten die richtige Lösung. Das Foto zeigt die heutige Nicolaistraße mit der damaligen Straßenbahnlinie 14.

Von Olaf Koch

Schönebeck l Das, was Dieter Knabe aus Zens der Volksstimme schrieb, wussten auch andere Leser zu berichten. Es ging nicht nur um die Straßenbahnline zwischen Schönebeck und Magdeburg, sondern vor allem um Episoden um den kleinen Kiosk, den es an dieser Stelle gab. Und Dieter Knabe hatte kulinarische Erinnerungen: „Dort in der Schönebecker Nicolaistraße war die Haltestelle der Straßenbahn in Richtung Magdeburg. Damals musste dann zur Weiterfahrt in das Zentrum Magdeburg in Südost umgestiegen werden. Die Fahrt dauerte eine knappe halbe Stunde. Aber das Witzigste, woran ich mich erinnere, ist der Imbiss gegenüber des Polizeiamtes. Dort gab es die besten Fischbrötchen für 25 Pfennig.“

Doch es waren nicht nur die leckeren Fischbrötchen der Region, die den Lesern in Erinnerung blieben, sondern vor allem die Geschichten um die Straßenbahn. Die ausführlichste Zuschrift kam von Gabriele Pflanz aus Schönebeck. Sie erkannte richtig, dass das Foto in den 1950er oder 1960er Jahren aufgenommen wurde. Rechts befindet sich das Polizeiamt und links die damalige Erweiterte Oberschule „Otto Grotewohl“.

„Den meisten sicher bekannt ist diese Straße als Anfangs- beziehungsweise Endstelle der Straßenbahn Linie 14. Von 1967 bis 1975 fuhr ich werktags immer von diesem Haltepunkt zu meiner Arbeitsstelle am Burgwall in Frohse, aber auch als junges Mädchen ging es mit Schulfreundinnen nach Magdeburg“, schrieb sie. Im Jahr 1969 war die Zeit der Straßenbahn leider vorbei, und es kamen Omnibusse zum Einsatz.

Dennoch hat Gabriele Pflanz ein Erlebnis aus ihrer Kindheit mit der Straßenbahn: „Ich war vielleicht acht oder neun Jahre alt und wollte gern zur Messe (Rummel) nach Magdeburg, damals noch auf dem Domplatz. Eine Arbeitskollegin meines Vaters aus Magdeburg erklärte sich bereit, mit mir dorthin zu gehen. Meine Mutter setzte mich hier in der Nicolaistraße in die Straßenbahn und bat die Schaffnerin, mich am Hasselbachplatz aussteigen zu lassen, was diese auch versprach. Nun wartete ich artig auf meinem Sitzplatz auf den Bescheid, aussteigen zu dürfen. Ich wusste ja nicht, wo der Hasselbachplatz ist. Nichts dergleichen passierte. Plötzlich sah mich die Schaffnerin erschrocken an. ‚Jetzt habe ich doch das Kind total vergessen!‘ Aber sie meinte, ich soll sitzenbleiben. ‚Wir fahren bis zur Endstelle Olvenstedter Platz und auf der Rückfahrt steigst du dann am Hasselbachplatz aus.‘ Und diesmal hielt sie ihr Versprechen. Alles ist gutgegangen. Ich stieg aus und Karin, Vaters Kollegin, nahm mich in Empfang. Was geworden wäre, wenn sie die Haltestelle verlassen hätte, daran möchte ich nicht denken. War man damals unbesorgter als heute, wenn die Kinder täglich mit dem Auto zur Schule gefahren werden? Ich glaube nicht, es war eine andere Zeit. Meine Eltern waren genauso besorgt wie die von heute.“

Ausführlich schildert auch Leser Herbert Brand seine Erlebnisse von damals. Er schildert die Einordnung der Gebäude und fährt dann fort: „Das Wichtigste war aber ganz links der Kiosk. Hier konnte man sich noch einmal vor der einstündigen Fahrt bis Magdeburg-Zentrum stärken. Die Fahrt kostete 50 Pfennig bis nach Magdeburg. Auf dem zweiten Gleis setzte der Triebwagen um, um die Fahrt an der Spitze nach Magdeburg zu absolvieren.“ Die Strecke bis Magdeburg-Westerhüsen war eingleisig mit den Ausweichen in Frohse und an der Schifferschule.

Alternativen fehlten

Vorne links, durch die Bahn verdeckt, stand ein Wartehäuschen mit Toiletten, erinnert sich Herbert Brand. „Die Straßenbahn wurde von den Schönebeckern sehr angenommen; echte Alternativen fehlten. Die Deutsche Reichsbahn fuhr zwar zu den Schichtzeiten verstärkt die sogenannte Arbeiterzüge für die Berufspendler, aber bequemer kamen die Schönebecker nach Magdeburg bis zum Olvenstedter Platz mit der Linie 14.“

Diese Linie wurde im Jahr 1926 eingerichtet und hatte bis 1969 Bestand. Ab 1974 bot sich als Alternative die S-Bahn zu damals günstigen Preisen an. „Leider hat der Öffentliche Personennahverkehr im Laufe der Zeit durch die zunehmende Motorisierung der Bevölkerung immer mehr an Bedeutung verloren“, schließt der Leser.

„Das Rätsel zeigt die Endstelle der Straßenbahnlinie 14 in der Schönebecker Nicolaistraße vor dem damaligen Volkspolizeikreisamt, das am rechten Bildrand zu sehen ist“, weiß Edgar Heyde aus Schönebeck. „Für 50 Pfennig konnte man bis in die 1960er Jahre nach Magdeburg fahren. Dies war die billigste Möglichkeit zur damaligen Zeit. Eine Zugfahrt bis Magdeburg-Buckau kostete 1,30 Mark. Die S-Bahn mit dem Tarif 2, ebenfalls 50 Pfennig, gab es erst ab 1974.“

Auch ihm ist der Kiosk im Bewusstsein. „Den Kiosk links im Bild gibt es heute nicht mehr. Dort gab es immer heiße Bockwurst mit Brötchen. Hinter der Mauer ganz links im Bild war ein freier Platz, auf dem vor Weihnachten Weihnachtsbäume verkauft wurden“, schreibt Edgar Heyde.

Nicolaistraße: Umkopplung

Er weiß auch noch weitere technische Details zur Straßenbahn: Die Straßenbahnlinie nach Magdeburg war eingleisig ausgeführt. An der Endstelle wurde mit dem Triebwagen um den abgekoppelten Anhänger herumgefahren und für die Rückfahrt wieder in Fahrtrichtung vorn angekoppelt. Das Gleis mit der Weiche am unteren Bildrand führte dazu bis auf den Marktplatz um die Ecke in Richtung Salzturm.

Das wussten auch andere Leser zu berichten.

In dieser Woche beteiligte sich auch wieder Gina Benatti am Heimaträtsel. Sie schickte folgende Zeilen: „Ich selber kann mich nicht an die Straßenbahn erinnern, aber als mein Vater, Jürgen Ladebeck, ein gebürtiger Schönebecker, jung war, kenne ich von Erzählungen her, dass es sich auf der linken Seite ein Kiosk befand, der Straßenbahn-Kiosk genannt wurde, in dem auch eine Bekannte meiner Eltern gearbeitet hat, Inge Burchard, liebevoll Tante Inge genannt.“

Mit großem Interesse verfolgen auch Heidi und Hans-Georg Brüche immer die Foto-Rätsel in der Zeitung. „Eine interessante Sache, die viele Erinnerungen weckt, einfach toll“, bedanken sie sich. Dass diese Aufnahme die Nicolaistraße in Schönebeck zeigt, wusste das Paar. „Es weckt bei mir starke Erinnerungen, weil wir ständig mit der 14 von Schönebeck nach Magdeburg fuhren, da meine ältere Schwester dort wohnte beziehungsweise wohnt und diese Fahrt von Kleinmühlingen gefühlt eine ‚halbe Weltreise‘ war.“

Neben der besagten Straßenbahn ist links im Bild noch deutlich der Kiosk zu sehen, wo es damals unter anderem ganz leckere Würstchen und rote Brause zu kaufen gab, „für mich als Kind natürlich wichtig“. Vor der „großen Reise“ nach Magdeburg haben sich die Gäste dort oftmals gestärkt. Dahinter ist ein Teil der damaligen Oberschule zu sehen. „Ich würde meinen, dass das damals mit der meist besuchteste Platz der Stadt war, dort pulsierte das Leben.“ Das Polizeigebäude gegenüber ist ganz schwach zu erkennen, dafür sieht man das Eckgrundstück – ein altehrwürdiges Gebäude – im Hintergrund, das zum Glück bis heute noch erhalten ist.

„Erwähnen möchte ich noch“, so Hans-Georg Brüche, „dass es an der Ecke versteckt – durch die großen Bäume –einen großen Wartesaal mit großen Fenstern gab, der im Winter sogar beheizt war und dadurch großen Anklang fand. Ich kann mich erinnern, als kleines Mädchen hatte ich nur immer einen Platz auf dem Schoß meiner Mutti, so voll war das dort immer – aber eine gute Sache für die Straßenbahn- und Bus-Nutzer.“

Auch Jürgen Hennenhöfer konnte in seiner E-Mail noch etwas zum Rätsel beitragen. „Die im Jahr 1926 eingeführte Vorortlinie 14 nach Schönebeck stellte 1969 den Verkehr ein. Die letzte Linienführung war vom Boleslaw-Bierut-Platz (heute Universitätsplatz) nach Schönebeck. Hinter den Kastanienbäumen ist das Wartehäuschen mit angrenzenden einfachen Toiletten verborgen.“

Toiletten? Richtig, dort gab es schon einmal öffentliche Toiletten, was auch Karin Gulatz aus Schönebeck positiv in Erinnerung hat – ein leider leidiges Thema in der Stadt.

Mit der richtigen Antwort bei „Kennen Sie Ihre Heimat?“ war auch Gerhard Wolter aus Schönebeck dabei. Er merkte an: „Es handelt sich um die Straßenbahnlinie 14. Sie fuhr von der Nicolaistraße, Geschwister-Scholl-Straße, Alt Frohse nach Magdeburg-Olvenstedter Platz. Fahrpreis ab Schönebeck 0,50 Mark, ab Frohse 0,30 Mark.“ In der Nicolaistraße war eine Ausweiche, dort konnte die Straßenbahn umkoppeln und zurück nach Magdeburg fahren, erzählt Gerhard Wolter. Und: „Diese Vorgänge habe ich sehr gerne beobachtet, denn die Rangierfahrt war immer mit dem Quietschen der Radsätze verbunden. In der Nicolaistraße wo das Polizeiamt ist, stand zu unser Kinderzeit ein Volkspolizist mit Maschinenpistole Wache. Unsere Kinderaugen waren immer auf die Waffe fokussiert. Anfassen gab es nicht!“

In guter Erinnerung ist Gerhard Wolter noch der Kiosk vom Konsum, dort gab es Bockwürste, Soleier, Fischbrötchen und Getränke. „Chef des Kiosks war ein Herr Adler.“

Die Schönebeckerin Sylvia Oelschläger kann sich an folgende Begebenheiten erinnern: „Mit dieser Bahn fuhr ich als Kind zu meiner Oma, die in der Dorotheenstraße in Buckau wohnte. Obwohl das Geld knapp war, gab sie mir jedes Mal Geld, damit ich mir in der Eisdiele Bordscheller Eis kaufen konnte. Das lasse ich mir seit rund 60 Jahren heute noch schmecken.“

Zu Fuß bis Westerhüsen

Und weiter: „In der Vorweihnachtszeit wollten meine Mutter mit meiner Schwester und mit mir nach Magdeburg zur Kinderweihnachtsfeier fahren, die von den Betrieben organisiert wurden, wenn die Eltern dort arbeiteten. Da haben wir uns lange drauf gefreut, denn bei Kaffee und Kuchen wurde ein tolles Programm aufgeführt. Anschließend kam der Weihnachtsmann und brachte für jedes Kind eine Tüte mit Schokolade und anderen Süßigkeiten. Das war natürlich das Größte. Bei uns gab es nur Ostern, zum Geburtstag, Nikolaus und Weihnachten Schokolade. An diesem besagten Tag fuhr die 14 nicht, da viel Schnee gefallen war. Was tun? Wir sind zu Fuß von Schönebeck nach Magdeburg-Südost im tiefen Schnee gelaufen. Die Strapazen waren schnell vergessen bei dem schönen Nachmittag, den wir dann erlebten.“ Zu Fuß bis nach Westerhüsen ... Wer macht das heute noch?

Am Heimaträtsel in dieser Woche beteiligte sich auch Siegfried Kliematz aus Schönebeck. Auch er wusste nicht nur die richtige Lösung, sondern folgendes: „Es war die erste elektrifizierte Linie, die bis nach Schönebeck fuhr. Die Linie 14 verband Schönebeck mit dem Olvenstedter Platz. Die Fahrzeit dauerte ungefähr eineinhalb Stunden und kostete sage und schreibe 50 Pfennige oder zehn Brötchen.“

Die 14 war die längste Strecke der Magdeburger Straßenbahn. Die Linie wurde im Jahr 1969 eingestellt. Zum Schluss fuhren die Bahnen ohne Schaffner. Die Entwerter übernahmen diese Aufgabe. „Eine kurze Episode zur Schaffnerzunft“, so Siegfried Kliematz. „Ein älterer Schaffner, er gehörte zum Inventar der Straßenbahn, stieg manchmal (nicht immer) aus den Triebwagen beim Fahrer aus, sprang bei Tante Linda (Gaststätte in Frohse) rein und trank ein Bier und einen Schnaps und sprang in den letzten Waggon der sehr langsam fahrenden Straßenbahn. Das war damals alles möglich. Und noch ein Witz: Die Schaffnerin sagte am Olvenstedter Platz immer: ‚Endstation, bitte aussteigen!‘ Ein Fahrgast: ‚Immer dasselbe, lass dir mal was neues einfallen!‘ Bei der nächsten Tour sagte sie prompt: ‚Arbeiter und Bauern, wir sind am Ende.‘ Sie ward nicht mehr gesehen ...“, so Siegfried Kliematz.

Auch aus Magdeburg erhielt die Redaktion in dieser Woche eine Zuschrift, von Andreas Schmidt: „Als Kind bin ich mindestens zweimal in der Woche mit dieser Straßenbahn nach Magdeburg gefahren, weil mein Bruder in der Uni-Klinik behandelt wurde. Die Straßenbahn war ‚luxuriös‘ ausgestattet, wie zum Beispiel die harten Holzbänke und die Türen, die manuell betätigt wurden. Der Schaffner hatte einen Wechselautomat um den Hals und hat pfennigweise gewechselt. Neben der Trafostation war der Kiosk, dort gab es immer leckere Zucker- und Lakritzstangen.“

Große Leserbeteiligung

Weitere Anrufe und Zuschriften kamen von Rudi Banse, Ursula Steinhagen, Rainer Kuha, Yvetta Schöne, Ruth Endemann, Hans-Werner Trantzschell, Holger Peters, Bianka Blau, Roland Wenzel, Frank Brandes, Gunnar Heise, Fritz Groß, Siegrid Beinhoff, Henny Köppe, Gerlinde Oberbeck, Urselotte Wenzel, Rita Golembiewski, Christel Altwasser, Helga Wartschewski, Sabine Adler, Ursula Goerke, Regina Wandiger, Roswitha Schwabe, Simone Ernst, Rolf Finger, Marion Wille, Harald Bahr von Ehrenberg, Hartmut Schröder, Günther Bosse, Birgit Odoy, Daniel Schürmann, Astrid Bierschenk, Werner Hilbrich und Anneliese Klose.

Gewonnen hat Gabriele Pflanz. Sie kann sich in der nächsten Woche zwischen 9 und 15 Uhr in der Redaktion ein kleines Präsent abholen.

 

Bild zur Meldung: Nicolaistraße Schönebeck in den 60ern